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2022

Sonnenwende – ein Blick auf völkische Traditionen in der Oberlausitz

Eine abgelegene Wiese auf einem Hügel, es sind Zelte aufgebaut, Kinder spielen mit Holzschwertern. Auf der einen Seite des Hügels tanzen Paare im Kreis. Es herrscht ein lebendiges Treiben. In der Mitte dieser Szenerie steht ein hoher Feuerstoß. Ganze Baumstämme wurden zu einem Turm abwechselnd übereinander geschichtet. Zu späterer Stunde wird dieser Feuerstoß unter Heilrufen brennen. Dies ist kein einfaches Brauchtum, sondern ein völkisches Ritual, welches Jahr für Jahr etliche Gleichgesinnte zusammenbringt und den „reinrassigen Lebensstil“ vermitteln soll.

Am Wochenende vom 19./ 20. Juni 2021 fand in Niederoderwitz, einer Gemeinde nordwestlich von Zittau erneut eine Feier zur Sommersonnenwende statt. Fotos belegen das Bestehen der Veranstaltung seit mindestens 2015, wobei eine wachsende Teilnehmer*innenzahl beobachtet werden kann. Was scheinbar als Feier im kleinen Kreis begann, kann spätestens ab 2018 als fester, größerer Ritus beschrieben werden. Am Waldrand parken Autos mit Kennzeichen aus dem gesamten Bundesgebiet, auf der anderen Seite des Geländes ist ein kleiner Zeltplatz für Übernachtungsgäste zu sehen. Neben diversen Zelten gibt es einen Bogenschießstand, Biertische und Spanferkel. An der höchsten Stelle des Hügels, welche von den Veranstalter*innen „Jonashöhe“ genannt wird, steht seit einigen Jahren ein ca. 10 Meter hohes hölzernes Radkreuz. Bilder belegen, dass anfänglich ein mit Zweigen geschmücktes Kreuz als Teil der Veranstaltung im zeremoniellen Rahmen aufgestellt wurde. Inzwischen ist das Kreuz seit einigen Jahren fest im Boden verankert und das ganze Jahr über vom Ort Niederoderwitz zu sehen.


Es ist gegen 19.30 Uhr. Die Tanzgruppe auf dem Hügel hält immer wieder inne, weitere Tanzabfolgen werden geklärt. Die Frauen tragen lange Röcke, die Männer Trachten, unter ihnen Mitglieder der Dresdner Volksliedertafel. Zwischen den Zelten steht eine hölzerne Irminsul. Sie gehört zu Alexander Lehmann.


Alexander Lehmann ist mit seiner Familie und einigen Mitarbeitenden seit 2018 eine feste Größe dieser Veranstaltung und stellt mit seinen Ständen einen Großteil an Zelten und Equipment.  Lehmann ist Mitglied der AfD und 2019 für die Partei in den Görlitzer Stadtrat eingezogen.

Mit seinem Mittelalterstand „Sippe Urkraft“ ist er regelmäßiger Gast beim jährlichen Altstadtfest in Görlitz – auch dort steht die Irminsul, welche im Nationalsozialismus als Gegenstück zum christlichen Kreuz etabliert wurde und bis heute in der neonazistischen Szene als Symbol beliebt ist. So hat beispielsweise die heidnisch-neonazistische Artgemeinschaft die Irminsul zusammen mit sieben Sternen als Vereinssymbol.

Quelle: „Sippe Urkraft“, Altstadtfest Görlitz 2017, Facebook

Des Weiteren ziert eine Wolfsangel eines seiner Schilde, eine Rune, die gern von Nationalisten als Symbol für Wehrhaftigkeit verwendet wird. Im Nationalsozialismus war die Wolfsangel das Symbol der seit 1939 aktiven „SS-Panzerdivision 3. Reich“ und später auch der „SS-Freiwilligen-Grenadier“. Das Symbol ist heute zwar noch in Familienwappen oder bei der Bundeswehr erlaubt, im neonazistischen Kontext jedoch verboten.

Quelle: „Sippe Urkraft“, Sommersonnenwende 2018 Oderwitz, Facebook

Hinter Lehmanns Begeisterung für die germanische Mythologie steht eine gefestigte neonazistische Ideologie, die sich nicht nur in der Darstellung von NS-Symbolen widerspiegelt. Alexander Lehmann besuchte am Wochenende des 21./ 22. April 2018 das neonazistische Festival „Schild und Schwert“ in Ostritz, bei dem mehr als 1.000 Neonazis Hitlers Geburtstag feierten.


Es ertönt ein langer gleichbleibender Ton von einem Dudelsack. Es ist jetzt kurz vor 22 Uhr. Im militärischen Ton schallt es über die Wiese, es wird zum Aufstellen aufgefordert. Die Menschen kommen zusammen. Dann setzen sie sich langsam hintereinander in Bewegung, laufen zum großen Feuerstoß und stellen sich in einem Kreis um den Holzturm herum.


In den Jahren 2016, 2018 und 2019 wurde der Feuerstoß an seinen vier Seiten mit Runen aus Stroh besetzt. Es handelte sich um Runen, die in einem direkten Bezug zur Symbolik des Nationalsozialismus oder späteren Nachfolgeorganisationen stehen und in Deutschland verboten sind.

Quelle: „Waldtraene“, Sommersonnenwende Oderwitz 2018, Facebook v.o.n.u. Tiwaz, Odal, Elhaz

Die Rune Odal oder Othala stand im Nationalsozialismus für die „Blut und Boden – Ideologie“ und wurde später von der 1994 verbotenen Wiking Jugend als Symbol verwendet. Auch die strafbare Rune Tiwaz und die Wolfsangel waren auf dem Holzstoß angebracht. Eine weitere sichtbare Rune ist Elhaz oder Algiz, auch Lebensrune genannt. Sie wird ebenfalls von einigen neonazistischen und völkischen Organisationen verwendet und ist im Kontext zu NS-Bezügen strafbar.


Trommeln sind zu hören. Es wird gedankt: für die Gemeinschaft, die diese Veranstaltung möglich macht, dem Besitzer des Grundstücks, dem Förster für das Holz, dem Bäcker für das Brot. Es wird ein aus Stroh geknüpftes Radkreuz auf eine Vorrichtung angebracht und entzündet. Ein als Feuerwehrmann erkennbarer Teilnehmer dreht das brennende Rad während ein Dudelsack spielt. Diese Szene dauert mehrere Minuten. Dann werden von allen Teilnehmenden Fackeln angezündet. Schätzungsweise bis zu 120 Personen nehmen an diesem Abend an dem Ritual teil.


Das brennende Radkreuz oder auch Sonnenkreuz symbolisiert bei neu-heidnischen Gruppierungen die Sonne und den Jahreszyklus. Ein goldenes Radkreuz auf blauem Grund zusammen mit einem Thorhammer als Symbol stellen neben Irminsul erneut eine Parallele zur rassistischen Artgemeinschaft dar.

Die 1951 von Wilhelm Kusserow gegründete „Artgemeinschaft GGG – Germanische Glaubens Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.“ versteht sich als Ersatzreligion und betreibt völkische Brauchtumspflege sowie bundesweite Siedlungsbestrebungen. Sie geht aus der zur NS-Zeit aktiven Nordischen Glaubensgemeinschaft hervor, deren Leitung das ehemalige SS-Mitglied Kusserow ebenfalls innehatte. Mit ihrem Artbekenntnis propagiert die Artgemeinschaft unter der Führung von Jens Bauer die Rassentheorie des NS und setzt sich für den „Erhalt der weißen Rasse“ ein. Sie ist ein bundesweites Netzwerk völkischer Neonazis mit direkten Verbindungen zum Rechtsterrorismus. Neben Beate Zschäpe (NSU-Kerntrio) und Ralf Wohlleben sowie dem Ehepaar Eminger (die engsten Unterstützer*innen des NSU-Kerntrios), hatte auch Stephan Ernst, der Mörder von Dr. Walter Lübcke, direkte Verbindungen zur Artgemeinschaft.

 

Quelle: „Die Artgemeinschaft-GGG e.V.“, Zur Sonnenwendfeier 2018, Facebook
Fotozusammenstellung der Sonnenwendfeier in Oderwitz

Bereits im 19. Jahrhundert gab es vermehrt Bestrebungen den „alten germanischen Glauben“ aufleben zu lassen und als Religion zu rekonstruieren. Auch völkische und rechtsnationale Strömungen begannen Anfang des 20. Jahrhunderts sich dem neu-heidnischen Glauben zu widmen. Im Nationalsozialismus wurde die germanische und heidnische Kultur zur Gegenspielerin des Christentums, mit Adolf Hitler als neuem Erlöser. Germanische Symbole und heidnische Bräuche wurden dem Christentum entgegengesetzt. So fand auch die Sommersonnenwende mit dem Datum des 23. Juni einen festen Platz im Kalender der Nationalsozialisten. Ab 1937 wurde die Sonnenwendfeier als Massenveranstaltung im Olympiastadion in Berlin abgehalten. Zuvor hatte sich die Hitlerjugend den Brauch des Feuerentzündens zu eigen gemacht. Gruppierungen wie die 1994 verbotene Wikingjugend, eine Nachfolgeorganisation der Hitlerjugend, oder die 2009 verbotene Heimattreue Deutsche Jugend, führten später diese Bräuche fort. Im niedersächsischen Eschede findet seit Jahren eine Sonnenwendfeier der NPD statt, die Artgemeinschaft feiert jedes Jahr im „Hufhaus“ im nordthüringischen Ilfeld. Diese Veranstaltungen sind aber nicht nur schlichte Brauchtumspflege, sondern dienen der völkisch-rechten Szene als Orte der Vernetzung, Rekrutierung und Stärkung neuer sowie etablierter Strukturen.


Der Feuerstoß wird gemeinsam mit den Fackeln entzündet. Es gibt Feuersprüche, bei denen germanischen Göttern gedankt wird. „Das Feuer brenne für das Vaterland“. Beendet werden die Sprüche mit „Heil Sonnenwende“, was von den Umstehenden im Chor wiederholt wird. Wieder ertönt „Heil Sonnenwende“, dann die Aufforderung zum Tanzen. Während ein Dudelsack beginnt zu spielen, fassen sich alle an den Händen, laufen im Kreis um das ca. 15 m hohe Feuer und rufen „Heil Sonnenwende Heil“.


Seit mindestens sieben Jahren findet diese Sonnenwendfeier in Oderwitz statt. Eine Ausnahme gab es im 1. Corona-Jahr 2020, als lediglich eine kleine Feier mit ausgewähltem Publikum auf einem privaten Grundstück an der Straße der Republik in Oderwitz stattfand. Aus Dresden reiste, wie jedes Jahr, Dachdecker Rick Mittenzwei mit Frau und Kind an. Er veröffentlichte Fotos dieser Veranstaltung auf seinem Facebook-Profil und lud zum Mitmachen ein. Mittenzwei trat 2004 bei den Dresdner Kommunalwahlen für das „nationale Bündnis“ an und wurde Mitglied des Ortsbeirats von Dresden-Pieschen. Er verfügt über weitreichende Kontakte zu Mitgliedern der NPD. Seine Frau Nina Eymann betreibt auf Instagram das Profil „Wunder.Licht.Welt“, ein Kanal für „traditionelle“ Frauen und Mütter. Auch sie hat einen rechten Hintergrund und war in Verbindungs- und Identitären Kreisen aktiv.

Im Jahr 2018 übernahm die musikalische Begleitung der Feuerzeremonie die Pagan-Folk-Band „Waldtraene“ aus Nordhausen, Thüringen. Sie teilten anschließend begeistert Bilder der Veranstaltung auf Facebook. Die Band arbeitete mit dem Label „Asatru-Klangwerke“ zusammen, welches auf seiner Seite „Asatru-Shop.de“ neben der CD von Ian Stuart (Mitbegründer des rechten Terrornetzwerkes „Blood&Honour“) und weiteren rechten Werken, auch einen Autoaufkleber mit dem Symbol der Artgemeinschaft (Adler fängt christlichen Fisch) vertreibt. Während sich schon 2009 die Göttinger Band „Asenblut“ aufgrund des Angebots an Rechtsrock und rechtem Merchandise von dem Label distanzierte und den Vertrag sofort kündigte, ließen „Waldtraene“ von 2011 bis 2014 drei ihrer Alben bei Asatru-Klangwerke veröffentlichen.

Überdies sind bekannte und aktive Neonazis aus der Region gern gesehene Gäste. Mit Enrico Kehring war ein führendes Mitglied der Schlesischen Jungs anwesend. Ebenso Enrico Küchler, welcher sich auch regelmäßig auf den neonazistischen Demonstrationen rund um den 13. Februar in Dresden finden lässt.

Die am Anfang bereits erwähnte „Volksliedertafel“ ist auf einer Vielzahl von rechten Demonstrationen und völkischen Veranstaltungen anzutreffen. Hierbei machen sie sich gemein mit Mitgliedern der NPD und rechtskräftig verurteilten Holocaustleugner*innen.

Der stark ritualisierte Ablauf, die Symbolik sowie die organisierenden und teilnehmenden Nazis prägen das Event weit über eine Feier von heidnischen Gruppierungen hinaus – als einen klar rechten, in Teilen mit offen neonazistischen Bezügen zu beschreibenden Ritus. Auffällig sind insbesondere die deutlichen Bezüge zur Artgemeinschaft, welche mit ihren Ideen und Ansätzen bereits seit vielen Jahren in völkischen Kreisen auf fruchtbaren Boden stößt.

Die hohe Dichte organisierter Nazis und ihre häufig langjährigen Strukturen sowie die hohe Toleranz der Mehrheit der ostsächsischen Bevölkerung gegenüber offen rechten und rassistischen Ideen, Motiven und Verhaltensweisen sprechen klar dafür, dass von der Veranstaltung eine strukturelle Gefahr für alle vermeintlichen und tatsächlichen politischen Gegner*innen ausgeht. Mit ihrer Ideologie kann die völkische Szene an vielen populären Bereichen wie Nachhaltigkeit, Naturverbundenheit und Esoterik anknüpfen und so nach und nach das Personenpotential für diese gefährlichen Strukturen erweitern.