Es ist Wochenende. Eine Gruppe junger Menschen wandert durch ein Waldgebiet in der böhmischen Schweiz, einige tragen Gitarren mit sich. Immer wieder stimmen sie Volkslieder an und fotografieren sich dabei. Hinter dem, was trügerisch einer Pfadfinder*innengruppe¹ ähnelt, steckt eine brandgefährliche, nationalsozialistische Ideologie.
Seit 2019 ist die „Wanderjugend Oberlausitz“ (WJO) aktiv. Auf dem seit Anfang 2020 betriebenen Instagram-Profil der WJO finden sich Landschafts- und Gruppenbilder ihrer gemeinsamen Ausflüge. Die Gesichter auf den Fotos sind unkenntlich gemacht. Die Teilnehmenden tragen Kleidung und Frisuren im völkischen Stil und inszenieren sich als elitäre, brauchtumspflegende, volksliedsingende Gemeinschaft. Die Bezüge zu Aufnahmen von Jugendorganisationen zur Zeit des Nationalsozialismus, der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädel, sind bewusst gewählt. Die geplanten Wanderrouten liegen meist an historischen und mehr oder weniger mystischen Wegpunkten, welche vor allem für Social Media inszeniert werden. Ob Besuche an Kriegsgräberstätten, an Orten regionaler Sagen und Legenden oder ob bedeutungsschwer in die Ferne geschaut wird, alles wird möglichst heroisch in Szene gesetzt. In den Beschreibungen der Wanderungen durch „ihre Heimat“ fällt auf, dass polnische und tschechische Dörfer, Städte und Berge ausschließlich auf deutsch benannt sind, eine Missachtung der deutschen Grenzen nach 1945.
Die vermeintlich „offene“ Wandergruppe besteht aus einem engen Kreis an Mitgliedern, deren Hauptakteur*innen in der Region um Zittau und Löbau aufgewachsen sind. Online werden Personen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren zum Mitwandern aufgerufen. Auf die Frage, wie man sich den Wanderungen anschließen kann, wird geantwortet: „ …Dann treffen wir uns im Vorhinein mit euch und lernen und erst einmal kennen. Wenn alles passt, könnt ihr beim nächsten Termin mitwandern…[sic]“.
Völkische Jugendbünde sind kein neues Phänomen, sie existieren bereits seit dem deutschen Kaiserreich. Zur Zeit des Nationalsozialismus übernahm die Hitlerjugend als einzig staatlich anerkannter Jugendverband die Kontrolle über die Jugendbünde. Bestehende Jugendbünde mussten sich anschließen, unpolitische und nicht-systemkonforme Jugendbünde wurden verboten. Schon wenige Jahre nach 1945 gründeten sich verschiedene völkisch-bündische Organisationen neu. Eine der heute noch aktiven Gruppierungen ist der „Freibund“, eine Organisation, aus welcher u.a. die 2009 verbotene „Heimattreue Deutsche Jugend“ hervorging. Aufgabe und Zweck des Freibundes ist die Ausbildung von Nachwuchs für den Kader rechter Gruppierungen. Das erreichen sie mit einer umfassenden faschistischen Ausbildung und der Schaffung eines neonazistischen Gemeinschaftserlebnisses in der freien Natur in Verbindung mit körperlicher Ertüchtigung. Viele Protagonist*innen in relevanten Positionen der Szene kommen aus dieser „Schule“ und finden sich heute beispielsweise in den Reihen der AfD oder als leitende Personen diverser Strukturen wieder. Im gesamten Bundesgebiet ist zu beobachten, dass Akteur*innen der rechten Szene Wanderjugenden gründen.
Singen für das Gemeinschaftsgefühl
Die gemeinschaftliche „Singerast“ der WJO, bei der unter Begleitung der mitgeführten Gitarren Volkslieder angestimmt werden, ist das wiederkehrende Motiv ihrer Inszenierung. Auch Textpassagen der Lieder werden hierfür auf ihrem Instagram-Kanal zitiert. Das verwendete Liederbuch „Schlachtruf“ ist keines, was sich einfach so erwerben lässt. Der „Schlachtruf – Ein Buch für alle und keinen“ wird online als „seltenes überbündisches Liederbuch“ angepriesen, welches wohl „Anfang der 90er Jahre auf privaten Wege in kleiner Stückzahl für bündische und studentische Kreise gefertigt [sic]“ wurde. In dem Buch ist unter anderem das vom NS-Komponisten Hans Baumann verfasste Lied „Du Land, deine Adler sind wach“ zu finden, welches bereits in den Musikblättern der HJ genutzt wurde. Die zahlreichen NS-Bezüge sowie zwischen klassischen Volksliedern enthaltenen Kriegs- und Kampfbilder, lassen erneut keinen Zweifel, worum es schlussendlich geht: Den vermeintlichen Überlebenskampf der Weißen nebst der Verherrlichung der NS-Zeit.
Mit Wandern und Singen verbindet die WJO ihre ideologischen Zielsetzungen: eine Gemeinschaftsstärkung, das Verklären von Begriffen wie Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit und die „Stärkung des Körpers und des Geistes“. So schreibt die WJO in ihren Texten immer wieder von der kraftgebenden Natur, die das „beste Heilmittel für einen kranken Körper und Geist“ sein soll, sowie von den körperlichen Anstrengungen, die aber nicht aufhalten, sondern ihre Gemeinschaft stärken würden.
Rechtsextreme Kampfsportevents
Der NS-Ideologie nacheifernd stärkt die WJO Körper, Geist und Gemeinschaft nicht nur beim Wandern, sondern auch bei zahlreichen rechtsextremen Demonstrationen, Veranstaltungen und Kampfsportevents. Einige Mitglieder der WJO nahmen am TIWAZ, welches 2018 in Grünhain-Beierfeld und 2019 in Zwickau stattfand, teil. Bei dem Event kamen bis zu 450 Neonazis aus dem ganzen Bundesgebiet zusammen. Unter ihnen viele bekannte Akteur*innen aus Strukturen wie dem III. Weg oder dem Blood&Honour-Netzwerk. Julian Menzel, mutmaßliches Gründungsmitglied der WJO, kämpfte beim TIWAZ für die NS-Straight-Edge-Gruppierung „Wardon 21“. Laut Exif-Recherche organisierte er am 20. April 2019 mit „Wardon 21“ eine Wanderung in der Sächsischen Schweiz, den „Führermarsch“ zu Ehren Adolf Hitlers.
Das TIWAZ ist nicht das einzige extrem rechte Kampfsportevent auf dem Julian Menzel kämpfte. So stieg er auch 2018 beim „Kampf der Nibelungen“ in Ostritz in den Ring. Das 2013 in Rheinland-Pfalz gegründete Kampfsportevent galt als eines der bedeutendsten Events dieser Art der rechten Szene in Deutschland. Bei dieser Veranstaltung treffen sich unter anderem Personen aus dem militanten Netzwerk „Combat18“, der elitären Neonazi-Bruderschaft „Hammerskins“ und Personen aus verschiedenen faschistischen Verbänden, teilweise verbotenen Kameradschaften und Hooligan-Gruppen aus ganz Europa.
Feste Termine
Zu den fest verankerten Daten und Pflichtterminen der WJO gehören auch geschichtsrevisionistische und NS-verherrlichende Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen wie der Rudolf Hess-Marsch, bei welchem Hitlers Stellvertreter, welcher sich 1987 im Gefängnis suizidierte, gedacht wird.
Neben der regelmäßigen Teilnahme an der geschichtsrevisionistischen Demonstration in Dresden rund um den 13. Februar, haben einige Mitglieder der WJO den Marsch „Ausbruch 60“ in Budapest besucht. Das seit 1997 stattfindende Gedenken an die Schlacht um Budapest findet jedes Jahr um den 11. Februar statt und zieht circa 2.000 Neonazis aus ganz Europa an. Das Event wird von ungarischen Blood&Honour-Strukturen organisiert und es nehmen zahlreiche deutsche Neonazis teil. Die Strecke des „Gedenkmarsches“ ist 60 Kilometer lang und erinnert an die Flucht der Wehrmacht im Februar 1945 vor der Roten Armee. Wer die Strecke schafft, sich selbst seine Leistungsfähigkeit und Stärke beweist, erhält einen Stoffaufnäher mit Eisernem Kreuz und Stahlhelm. Viele der Teilnehmenden tragen Wehrmachts- und SS-Uniformen. In den Jahren 2019 und 2020 nahmen neben Julian Menzel auch Max Hempel, Michael Brauner und Markus Lebelt von der WJO teil. Auf Fotos ist zu sehen, wie sie teilweise selbst NS-Devotionalien und SS-Uniformen tragen.
Weiblichkeit und die „traditionelle“ Frau innerhalb der WJO
Auch wenn die Wanderjugend auf den ersten Blick wie ein ausschließlich männlicher Bund wirken mag, ist eine bekannte Protagonistin von Anfang an dabei. Freya Honold war bereits Bestandteil der selbsternannten „Identitären Bewegung“ und dem daraus hervorgegangenen Projekt „120db“. Honold definiert sich als Kulturkämpferin, steht für ein konservatives Familienbild und die klassischen Geschlechterrollen. Sie versucht der „traditionellen Frau“ einen modernen Anstrich zu geben. Die Rolle der „starken und tapferen Frau“, welche dem Mann eine Kameradin sein soll, fand sich schon im NS-Erziehungsmodell des „Bund deutscher Mädel“.
Bündischer Tradition folgend trägt sie auf den Wanderungen völkische Flechtfrisuren, lange Röcke und Wollpullover. Honold beschreibt ihre Erfahrungen auf ihrem Social-Media-Kanal wie folgt: „Vor kurzem absolvierte ich meine bisher anstrengendste Wanderung. Ich trotzte Schnee und eisigen Böen und ging an meine Grenzen. […] Einfach komplett gegen das zu gehen, was bequem und einfach ist. Um meinen Geist zu stählen und meinen Körper zu stärken. […] Es ist unsagbar heilsam, wieder ein starkes Band zu seiner eigenen Gesundheit zu knüpfen, vielleicht jetzt mehr denn je.“
Sommersonnenwende
Der rechte Funktionär Tobias Schulz aka Baldur Landogart bietet in einem seiner YouTube-Videos einen weiteren tiefen Einblick in die Ideologie und Struktur der Wanderjugend Oberlausitz. Das einstündige Video dokumentiert umfassend eine von der WJO organisierte Veranstaltung zur Sommersonnenwende, welche 2021 in Friedersdorf (Spree) in der Oberlausitz stattfand. Die Einladungen der teilweise weitgereisten Gäste erfolgte nach bestimmten Kriterien und es wurde auf eine „Geschlechterausgewogenheit“ wert gelegt. In einem Interview erzählt Max Hempel weiter von ihrem „inneren Kreis“, bei dem sie noch auf einen „ganz anderen Standard“ achten. Hempel stammt aus der Oberlausitz und ist von Anfang an einer der Hauptakteure der WJO. Weiter heißt es in dem Interview, sie möchten mit ihrer Bewegung Menschen überzeugen, die „[…] schlechten Gepflogenheiten dieser Gesellschaft, die man in die Wiege gelegt bekommt […]“ abzulegen. Es werden Ausschnitte vom gemeinsamen Volkstanz und einem von Männern ausgerichtetem Schwerttanz gezeigt. Um den großen Holzstoß in der Mitte des Geländes wurden vier Runen aus Stroh aufgestellt, auf dem Holzstoß ist ein aus Stroh geknüpftes Hakenkreuz zu sehen. Die Parallelen zu der völkischen Sommersonnenwende, welche seit 2015 in Oderwitz stattfindet und bei der Mitglieder der WJO 2019 teilnahmen, sind auffällig
„[…] auf diesem Feuerstoß wird sich das Sonnenrad trotzdem drehen, ob es brennt oder nicht, liebe Gefährten, jetzt erst recht! Heil Sonnenwende!“ heißt es am Abend, nachdem das Ordnungsamt das Feuer untersagt hatte.
Es werden die Lieder „Die Fackel geht von Hand zu Hand“ von Heinrich Anacker und „Nur der Freiheit gehört unser Leben“ von Hans Baumann gesungen, beide entstanden in der Zeit des Nationalsozialismus. Anacker ist ein NS-Dichter der ersten Stunde des Nationalsozialismus, schrieb viele propagandistische Gedichte und Lieder und war selbst SA-Mitglied. Das von Baumann komponierte Lied entstand 1935 und wurde zum Pflichtlied der Hitler Jugend und des Bund deutscher Mädel. Auch nach 1945 war es ein beliebtes Lied von verschiedenen bündisch-völkischen Organisationen und ist bis heute Bundeslied des Freibunds.
Mitte Juni 2022 tauchte auf dem Telegram-Kanal „Zusammenrücken“ ein Video einer Sommersonnenwende auf. Die Bilder stammen von der Sonnenwendfeier 2021 in Friedersdorf. Bei „Zusammenrücken“ steht die Ansiedlung weiterer völkischer Personen im Vordergrund. Bestrebungen, welche in den letzten Jahren verstärkt auch in der Oberlausitz zu beobachten sind.
Fazit
Die „Wanderjugend Oberlausitz“ kann als „Role-Model“ innerhalb der Szene bezeichnet werden. Nach innen organisiert sich die Gruppe konspirativ und schirmt sich somit von der Außenwelt ab – nach außen wird das Spektrum rechter Organisierung und Brauchtumspflege durch das Wiederbeleben der Wanderjugenden erweitert. So geht es der WJO mit ihrer völkisch-bündischen Form des Zusammenkommens vor allem um rechte Raumnahme und das Unterbreiten niederschwelliger Angebote, um über neue Mitglieder sowohl personell als auch ideologisch ihre Wirkmacht zu vergrößern. Der zugrunde liegenden völkischen Blut-und-Boden-Ideologie folgend begreift die WJO ihre politischen Aktivitäten als Fundamentalopposition von Rechtsaußen zum aktuellen politischen System.
¹Wir möchten an dieser Stelle keinesfalls Pfadfinder*innen und die WJO miteinander vergleichen und weisen daher explizit auf das jugendpolitische Konzept des „Ring deutscher Pfadfinderinnen und Pfadfinderverbände (RDP und RdP)“ hin, in welchem u.a. Folgendes zu lesen ist: „Die Aufgabe des RDP und RdP ist es daher immer wieder, Rassismus und menschverachtende Ideologien zu thematisieren und gemeinsam dagegen Haltung zu zeigen.“